Liebigschüler bei Stolpersteinverlegung

Schülerinnen und Schüler des Grundkurses Geschichte in der Q2 von Anja Sommer wieder aktiv bei diesjährigem Gedenken

Der folgende Artikel von Jens Riedel entstammt der Gießener Allgemeinen vom 31.05.2024, hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Gießener Allgemeinen

 

Aus drei Kontinenten sind Urenkelin Danielle Slonim (l.), Enkel Martin Eric Speier (3.v.l., mit Ehefrau Adrienne Speier, 2.v.l.) und Enkel Jonathan Speier (2.v.r.) zur Verlegung eines Stolpersteins für Jenny Speier nach Gießen gekommen. © Oliver Schepp

Gedenken an ermordete Großmutter

Um bei der Verlegung eines Stolpersteins für Jenny Speier dabei zu sein, die 1942 von den Nazis ermordet wurde, sind zwei Enkel und eine Urenkelin der Getöteten extra aus Südafrika, Australien und den USA nach Gießen gereist.
Martin Eric Speier ist sichtlich ergriffen, als er sich an die rund 30 Zuhörer wendet, die vor dem Haus in der Neustadt 7 stehen. »Leider habe ich meine Großmutter nie persönlich kennengelernt, aber sie soll ein sehr netter und sehr fürsorglicher Mensch gewesen sein«, sagt Speier. Jenny Speier wurde 1942 von den Nazis ermordet. In der Neustadt 7, wo heute das Borrmann-Geschäft beheimatet ist, hatte sie ihren letzten frei gewählten Wohnsitz.
Wenige Sekunden vor der Ansprache ihres Enkels Martin Eric Speier hat ein Mitarbeiter des Tiefbauamtes einen Stolperstein für Jenny Speier in den Bürgersteig einbetoniert und eine weiße Rose daneben gelegt.
»Unglücklicherweise hat mein Vater wenig über meine Großmutter gesprochen. Das Trauma ihres Todes im Konzentrationslager saß offenbar auch bei ihm zu tief«, sagt Martin Eric Speier, der auf Englisch spricht. Zusammen mit seiner Ehefrau Adrienne ist er extra zur Verlegung des Stolpersteins aus Johannesburg in Südafrika nach Gießen gereist.
»Der Holocaust hat mit Worten begonnen, nicht in der Gaskammer«, mahnt Speier. Deshalb dürfe man auch heute nicht schweigend zusehen, wenn Menschen wegen ihrer Religion oder Herkunft verunglimpft oder gar gehasst werden. Sein Cousin Jonathan Speier, der in Miami in den USA lebt, und seine Tochter Danielle Slonim, die in Melbourne/Australien wohnt, sind ebenfalls zur Verlegung des Stolpersteins für Jenny Speier nach Gießen gekommen.
Seit über einem Jahr steht Christel Buseck von der Koordinierungssstelle Stolpersteine Gießen in Kontakt zur Familie Speier, die ihre Reise nach Gießen aus eigener Tasche bezahlt hat. »Es ist schön, diesen bedeutenden Moment mit Ihnen zu teilen. Und es ist die Verantwortung unserer Stadt, die Erinnerung an die ermordeten jüdischen Menschen wachzuhalten«, sagt Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher zu den Nachkommen. Er übergibt der Familie das Buch »Juden in Gießen 1788 – 1942« von Hanno Müller.
Jenny Speier (geboren 1885 in Treis/Lumda gehörte der liberalen israelitischen Religionsgemeinde an und betrieb als Witwe (ihr Mann war im 1. Weltkrieg gestorben) ein Kolonialwarengeschäft am Landgraf-Philipp-Platz.
Inhaberin eines Kolonialwarenladens
Dort handelte sie mit Bier, Kaffee, Butter, Öl, Tabakwaren sowie Spirituosen. Im September 1931 zog Jenny Speier in die Neustadt 7 um. Dort war es ihr zunächst noch möglich, auch unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ihren Laden weiter zu betreiben.
Doch im Juni 1938 musste sie ihre Gewerbe beenden und ab März 1939 mehrmals umziehen – zunächst in die Neustadt 14, dann in die Frankfurter Straße 11 und schließlich in das Ghettohaus Walltorstraße 48.
Von dort aus wurde Jenny Speier im September 1942 über Darmstadt in das besetzte Polen deportiert, vermutlich nach Treblinka, und von den Nazis ermordet. Ihren drei Kindern gelang die Emigration: Herbert flüchtete nach Südafrika, Kurt nach New York und Tochter Hilde nach Palästina.
Nach der Verlegung des Steins für Jenny Speier wird am Marktplatz vor dem Service-Gebäude der Stadtwerke (früher Markstraße 9) ein weiterer Stolperstein mit blank polierter Oberfläche aus Messing einbetoniert, der an Paula Levy erinnert (geboren 1877). Sie musste auf Anordnung der Nazis im Februar 1940 in den Wetzlarer Weg 17 umziehen, später in die Landgrafenstraße. Am 14. September 1942 wurde Paula Levy zusammen mit vielen anderen jüdischen Bürgern Gießens in die Goetheschule gebracht, von dort über den Güterbahnhof nach Darmstadt deportiert und am 27. September in das Ghetto Theresienstadt abgeschoben. Dort starb sie am 20. Februar 1943, vermutlich an Unterernährung und Entkräftung.
In Gießen und seinen Stadtteilen wurden seit 2008 rund 210 Stolpersteine an den Stellen verlegt, wo jüdische Opfer des nationalsozialistischen Regimes ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten. Die Organisation und Vorbereitung liegt bei der Arbeitsgruppe »Koordinierungsgruppe Stolpersteine Gießen«. Die Steine werden durch Spenden finanziert.

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