DDR-Zeitzeugen an der Lio

Ehemalige DDR-Flüchtlinge und andere Zeitzeugen der »Vor-Wende-Zeit« kamen an die Liebigschule in Gießen mit dem Abi-Jahrgang ins Gespräch

Die fünf Zeitzeugen mit Lio-Schulleiter Dirk Hölscher (2.v.re.). Foto: Kremer © Kremer

Zeitzeugengespräche sind eine wichtige Methode, um vergangene Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Aus diesem Grund hatte die Schulleitung der Liebigschule am Mittwoch fünf Zeitzeugen eingeladen, die dem Abiturjahrgang von ihren Erlebnissen zu Zeiten der Teilung Deutschlands erzählen.
Neben der »typischen Fluchtgeschichte« wie der von Mark Mutterlose, der mit 19 Jahren aus der DDR floh, gefasst wurde und in Untersuchungshaft landete, gibt es auch eher ungewöhnlichere Geschichten, wie die von Thomas Maler. Er ist weder in der DDR großgeworden, noch wollte er aus ihr flüchten. Trotzdem wurde er bei einer Reise dorthin zu 27 Monaten Haft verurteilt, weil er einem Ostberliner seinen Ausweis lieh, damit dieser über die Grenze in den Westen fliehen konnte. Das Urteil: Menschenhandel.
Es war eine Zeit, in der man Niemandem trauen konnte. Arbeitskollegen, Freunde, Familie – alle waren eine potenzielle Gefahr. Auch die Zeitzeugen wissen nicht, ob vielleicht sogar Klassenkameraden oder Lehrer Informationen über sie an die Staatssicherheit weitergegeben haben. »Ich weiß nicht, wer es war. Aber wen soll man da verdächtigen? Das sind eh alles Schweinehunde, die das gemacht haben«, äußert sich Michael Beckmann sehr deutlich. »Vergeben fällt mir schwer.« Er wurde als 19-Jähriger zu 14 Monaten Haft verurteilt, seinen 21. Geburtstag verbrachte er im Zuchthaus Naumburg. Schließlich konnte er freigekauft werden und in den Westen ausreisen.
»Alles Schweinehunde«
Ähnlich erging es Robert Krug nach über zwei Jahren Haft. Als er in den 90er-Jahren seine Stasi-Unterlagen lesen durfte, hat ihn »das Studieren dann auch beruhigen können«. Zwar hatten sich einige seiner Freunde neutral, allerdings niemand gefährdend für ihn geäußert. Die Zeitzeugen können die Gefühle der jeweils anderen sehr gut nachvollziehen. Obwohl ihre Geschichten unterschiedlich sind, wurden sie doch alle von demselben System unterdrückt. »Ich war angenehm überrascht«, erinnert sich Michael Verleih an das Lesen seiner Akten. Seine Daten wurden teilweise an den russischen Geheimdienst weitergeleitet, aber »bestimmte Leute, die ich verdächtigt habe, die waren gar nicht dabei.«
Schockierend, sowohl für die Lehrer als auch die Schüler, waren auch die Schilderungen der Zeitzeugen bezüglich der Bespitzelungen in der Schule und im Klassenzimmer. »Mein bester Schulfreund war bei der Stasi«, erzählt Verleih und auch Mutterlose stimmt ihm zu: »Das Schulsystem in der DDR war zur Überwachung da.«
Den Schwur, niemals Westfernsehen zu sehen oder den westlichen Radiosender Rias zu hören, den Verleih seiner Lehrerin geben musste, habe er schnell gebrochen, beichtet er und gibt den Schülern auch einen Rat mit auf den Weg: »Es ist immer wichtig zu hören, was die anderen sagen.« Diese Weisheit habe er von seinem Vater bekommen, der aufgrund seines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten im Zuchthaus Brandenburg Gefangener war. Genauso wie sein Sohn später auch, als die Stasi sein DDR-kritisches Manuskript in die Hände bekam. Wegen »Staatsfeindlicher Hetze im schweren Fall« wurde er zu vier Jahren Haft verurteilt. »Ich war da eine Lachnummer mit meiner geringen Strafe«, lacht Verleih. Politische Gefangene durften nicht in eine Zelle, für die nächsten Jahre waren seine Bettnachbarn deshalb Serienmörder, Sexualstraftäter, Kriegsverbrecher und Nationalsozialisten.
Verleih erzählt, wie die Insassen des Gefängnisses Spiele aus Brot und Zahnpasta, Kopfhörer aus Marmeladenglasdeckeln und Radios in Bonbon-Größe bastelten, um in der Isolierung Beschäftigung zu finden. »Meine Haftzeit war sehr lehrreich«, resümiert Verleih. Er habe Menschen gesehen, denen man in Freiheit nicht begegnen würde, die ausschließlich verbrecherisch denken, Menschen, die Kinder getötet haben und mit denen man, wenn es darauf ankam, zusammenhalten musste. »Ich habe von unterschiedlichsten Menschen unvergessliche Solidarität bekommen«, verdeutlicht er. Auf die Frage, ob er etwas in seinem Leben bereut oder ob er etwas anders machen würde, findet er eine sehr klare Antwort: »Ich fühle mich als glücklicher Mensch. Ich habe nichts, was ich mir vorwerfen könnte. Ich kann in den Spiegel gucken.«

Der Artikel entstammt dem Gießener Anzeiger und ist unter folgendem Link abrufbar:

https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/vergeben-faellt-mir-schwer-92088113.html

 

 

 

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